Fast berühmt
Spüli, Pommes, Mücke und ich wären fast berühmt geworden, aber irgendwie ging die Sache den Bach runter, bevor wir richtig loslegen konnten.
Es war eine Schnapsidee, aber wir waren vier, und das war nun mal die magische Zahl, meinte jedenfalls Mücke.
»Ich kann ja nicht mal Noten lesen«, sagte Pommes.
»Bist du bescheuert?«, fuhr Mücke ihn an. »Glaubst du vielleicht, John Lennon konnte Noten lesen? Es geht hier um Rock'n'Roll, nicht das scheiß Sonntagskonzert.«
Es war 1983, alles zuckte im Takt der abebbenden Neuen Deutschen Welle. Im Frühling war Major Tom durch die Wolken gebrochen, und der Hasenzahn aus Hagen hatte 99 Luftballons steigen lassen. Robin Gibb wimmerte um Juliet, und man wippte den Sunshine Reggae.
Mücke hatte uns im Aufenthaltsraum des Jugendzentrums zusammengerufen und verkündet, wir würden jetzt eine Rockband gründen. Wir seien vier, und das sei die magische Zahl. Die Beatles, The Who, Led Zeppelin, Queen. Die Welt warte auf uns und wir würden mehr Weiber abkriegen, als wir ertragen könnten. Das hörte sich nicht schlecht an. Wir waren noch an keiner Frau richtig dran gewesen, meinten aber, eine ganze Menge ertragen zu können. Spüli war zwar dabei, in dieser Hinsicht aufs andere Ufer zuzurudern, aber das war gewissermaßen noch nicht offiziell.
»Außerdem«, meinte Mücke, »wollt ihr doch bestimmt mal irgendwann raus aus dem ganzen Scheiß hier, oder?«
Spüli, Pommes und ich sahen uns an. Wir wussten nicht genau, was er meinte. Unsere Väter verprügelten unsere Mütter nicht, alle hatten Arbeit, und das mit dem Taschengeld war auch okay.
»Ey, die Gegend hier ist doch auf dem absteigenden Ast! Keine Kohle ohne Kohle! Oder glaubt ihr, das wird hier mal so ne Art Kulturhauptstadt? Vergesst es! Wenn aus uns was werden soll, müssen wir weg hier, und zwar schnell. Das geht nur über harte Arbeit, großen Sport oder tobende Rockmusik! Harte Arbeit? Vergiss es, ich hab gesehen, was das aus meinem Alten gemacht hat. Großer Sport? Zu viele Idioten. Also bleibt nur Rockmusik.«
Na gut, das hörte sich einigermaßen logisch an. Mit Arbeit hatte ich es nicht so und Sport war was fürs Fernsehen.
Aber so richtig leicht würde das mit der großen Karriere auch nicht werden, das wurde uns schnell klar. Dass wir keine Noten lesen konnten, mochte noch angehen, dass wir keine Instrumente spielen konnten, würde sicherlich das größere Problem darstellen.
»Du hast doch ne Gitarre«, sagte Mücke zu mir, »also was meckerst du?«
Ich erlaubte mir anzumerken, dass eine Gitarre noch keine ganze Band ersetze.
Mücke ließ das nicht gelten. »Ey, hast du mal gehört, was Brian May auf der Gitarre macht? Da kannst du aber jedes Sinfonie-Orchester in die Tonne kloppen!«
»Ich dachte«, gab ich zurück, »du kannst Queen nicht ausstehen.«
»Ich kann die Schwuchtel am Mikro nicht leiden. Der Langhaarige an der Gitarre ist klasse.«
»Schwuchtel?«, schaltete sich Spüli ein, »Freddie Mercury ist doch nicht schwul!«
Mücke sah ihn mitleidig an. »Wach auf, Cinderella, wir sind nicht mehr im Märchenland.«
Im Folgenden setzte uns Mücke auseinander, worauf es wirklich ankam, wenn man eine Band gründen wollte. Das mit den Instrumenten und der Musik, das werde sich finden. Ein Bekannter seines Bruders habe schon in Aussicht gestellt, demnächst ganz günstig an eine komplette Ausrüstung zu kommen. Wahrscheinlich der gleiche, der erst letztes Jahr aus dem Knast gekommen war, nachdem sein schwunghafter Handel mit geklauten Autos ihn dorthin gebracht hatte.
»Wir sind minderjährig«, sagte Mücke, »und geschenkten Pferden guckt man nicht auf die Hufe.«
»Geht das Sprichwort nicht ganz anders?«, fragte Pommes.
»Du spielst Bass!«, sagte Mücke. »Da muss man nix können, den hört man eh kaum. Bisschen zupfen und die Sache läuft. Und zupfen, das hast du doch drauf, du kleine Sau! Spüli spielt Schlagzeug.«
»Wieso?«
»Weil unser Brian May hier« - er zeigte auf mich - »Gitarre spielt.«
»Und was machst du?«
Mücke starrte Spüli völlig verständnislos an. »Ich singe natürlich.«
»Warum ausgerechnet du?«
»Weil ich die Idee mit der Band hatte. Und weil von euch keiner in der Lage wäre, diese enormen Massen an Weibern zu verarbeiten, die auf so einen Sänger zukommen. Sorry, aber das ist nur was für die großen Jungs.«
»Du bist doch kaum eins siebzig!«, meckerte Spüli.
»Aber meine Eichel hängt mir knapp überm Knie. Wenn ich nackt mit nem Ständer auf der Straße liege, kleben die Leute Plakate dran, weil sie denken, das is ne Litfaßsäule! Ich singe, und damit gut. Aber das ist auch nicht das Entscheidende.«
»Sondern?«
»Das Entscheidende ist das Benehmen. Unser Auftreten. Unser Image. Es ist absolut wichtig, dass wir uns von jetzt an wie Rockmusiker benehmen, wenn wir schon keine Instrumente haben. Zuerst lassen wir uns die Haare wachsen. Also so richtige Matten, bis runter auf den Rücken.«
Spüli verzog das Gesicht. Er hatte sich in den letzten Wochen durchaus die Haare wachsen lassen, aber nicht überall. Hinten waren sie nach wie vor stoppelkurz, vorne jedoch wucherten sie aus wie ein gerupftes Vogelnest. Er sah aus, als könnte er gleich bei Duran Duran einsteigen.
»Als Nächstes«, fuhr Mücke fort, »ist es enorm wichtig, was wir über uns erzählen. Wo wir herkommen und was wir bisher gemacht haben und der ganze Scheiß. Da müssen wir uns ordentliche Geschichten zurechtlegen. Die müssen uns in Fleisch und Blut übergehen. Wenn wir berühmt werden, müssen wir selbst daran glauben. Also ich selbst brauche ja nichts zu erfinden. Mein Vater säuft, meine Mutter fickt mit dem Filialleiter vom Edeka, mein Bruder ist ein krimineller Schläger, und mich haben sie schon im Kindergarten fertiggemacht, weil ich so klein war. Astreine Rock'n'Roll-Biografie. Was ist mit euch? Was habt ihr zu bieten? Habt ihr schon früh Talent gezeigt oder so was?«
Ich überlegte. »Ich habe mit drei Jahren im Speisesaal eines Hotels in Bad Godesberg Kinderlieder gesungen und bin dann an den Tischen vorbeigegangen, um Geld einzusammeln.«
Mücke nickte. »Brian May kümmert sich also um unsere Gagen, so lange wir keinen Manager haben. Wie sieht es mit Drogen aus?«
»Ich hab mal Tee geraucht!«, rief Pommes stolz.
Mücke senkte den Blick und schüttelte den Kopf. »Mann, Pommes, es geht hier um Exzesse, nicht darum, dass man sich ein bisschen Wildkirsch in den Tabak reibt, weil man für einen echten Joint keine Traute hat. Also Spüli und ich rauchen, das ist schon mal was. Das würde ich euch anderen beiden auch raten. Aber ich sag euch gleich: Richtig rumsaufen, Sachen durch die Gegend schmeißen und aus dem Fenster pinkeln, drunter geht's nicht. Über kurz oder lang müssen wir auch an harte Drogen ran, um den Tourstress durchzustehen, das mit dem permanenten Vögeln auf die Reihe zu kriegen und natürlich um überhaupt kreativ sein zu können. Außerdem ist das mit den Drogen noch immer die beste Möglichkeit, unsere Ablehnung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zum Ausdruck zu bringen.«
»Du lehnst die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse ab?«, sagte Spüli.
»Ob ich das wirklich tue oder nicht, spielt keine Rolle. Aber kennst du eine Rockband, die die bestehenden Verhältnisse gut findet?«
Langsam dämmerte mir, dass Mückes Vorstellungen über eine Rockband etwas antiquiert waren.
»Was ist mit prominenten Freunden?«, wollte er jetzt wissen. »Ist einer von euch vielleicht mal, keine Ahnung, Udo Lindenberg über den Weg gelaufen?« Wir dachten nach.
»Ich war mal mit meinen Großeltern in Österreich im Urlaub«, sagte ich, »und da hat meine Omma mich gezwungen, mir ein Autogramm von Toni Innauer zu holen.«
Mücke war enttäuscht. »Dem Skispringer? Geht's noch ein bisschen spießiger? Vielleicht Hans Rosenthal?«
»Kulenkampff«, sagte Pommes.
»Nee, lass mal«, sagte Mücke, »Kulenkampff ist okay. Mein Vater sagt, der legt nach jeder Show seine Assistentin flach. Also in puncto frühe Einflüsse müssen wir noch was drehen. Mein Bruder hat mal Gunter Gabriel kennengelernt, da kann man was draus machen. Und jetzt das Wichtigste: Frauen. Ihr müsst euch ganz genau überlegen, was da bisher gelaufen ist und was die über euch erzählen können. So Geschichten wie im Sommer mit der Blaschke dürfen nicht noch mal passieren. Ich hoffe, die Alte kann den Mund halten.«
Pommes wurde erst blass und dann rot. Im Sommer war er auf einer Party im Jugendzentrum Martina Blaschke sehr nahe gekommen. Sie hatte sich an die Beule in seiner Hose gedrückt, als kriegte sie Geld dafür, hatte ihn mit in ein leeres Büro genommen und sich zumindest teilweise für ihn entkleidet. Pommes allerdings war von der Situation derart überfordert gewesen, dass er beim Anblick ihrer Brüste in Tränen ausgebrochen war. Dummerweise hatte er uns davon erzählt.
»Ihr seht also«, sagte Mücke, »da ist noch eine ganze Menge Arbeit zu leisten, bevor wir überhaupt daran denken können, Instrumente in die Hand zu nehmen. Zunächst mal müssen unsere Storys stimmen. Also vor allem eure. Meine ist ja jetzt schon quasi wasserdicht.«
Eine Woche später wurde Pommes auf der Toilette mit Haschisch erwischt. Er musste kotzen, weil er versucht hatte, das Zeug zu schnupfen. Mücke bat seinen Bruder, uns ein bisschen Koks zu besorgen, aber der lachte nur und sagte, wir sollten mal schön bei Mottenkugeln und Malzbier bleiben.
Spüli kaufte einem Cousin eine alte Wandergitarre ab, und bei einem Folkabend in der Schule spielten wir beide zusammen ein paar Stücke von Simon and Garfunkel, James Taylor und Joni Mitchell, was zuerst als erfrischend anachronistisch empfunden wurde, dann aber unangenehm endete, was aber eine andere Geschichte ist.
Nach ein paar Wochen blies Mücke das Projekt Rockband für uns endgültig ab.
»Was soll ich mit euch machen!«, rief er. »Euch geht's einfach zu gut! Ihr habt noch nichts erlebt. Ihr seid einfach keine Meldung, Jungs. Ich sag euch, in paar Jahren läuft das ganz anders. Da treten hundert Typen im Fernsehen gegeneinander an, und am Ende gewinnen die mit den dümmsten Fressen und werden von einem bescheuerten Produzenten zur Band gemacht, weil sie die richtigen Storys auf Lager haben!«
Wenn Mücke aufdrehte, dann erzählte er einen unglaublichen Schwachsinn.
Ich habe dann noch ein paarmal versucht, meiner Rock'n'Roll-Biografie auf die Sprünge zu helfen. Einmal trank ich zehn Ouzo in drei Minuten und pinkelte dann an eine Kirche. Ich griff versehentlich der Mutter eines Mädchens aus meiner Stufe an die Brust und fuhr betrunken Auto ohne Führerschein. Aber das hat auch nichts gebracht.